Um 05:13 Uhr steigen wir auf den Sattel und rollen durch das nächtliche Neumarkt. Den Radweg im Unterland genießen wir bei Nebel und Sonnenaufgangslicht. Der langweilige Radweg nach Meran wird kurzweilig zerredet. Der kurzweilige Radweg ins Passeiertal macht wie immer Spaß.
Beim 2. Frühstück in St. Leonhard haben wir schon 66 km auf dem Tacho. Als wir weiterfahren, begegnen wir den Spielern des FC St. Pauli, die erst um 9:30 Uhr das Training beginnen. Da haben wir heute früher gestartet. Ja, wir haben schon 66 Kilometer. Aber bis zur Passhöhe fehlen noch 29 Kilometer und vor allem 1.800 Höhenmeter. Gehen wir’s an!
Die
Landschaft ist schön, die Straße ist schön, das Wetter ist schön – wenn
nur der ohrenbetäubende Lärm der zwei- und vierrädrigen
Peniskompensatoren nicht wäre... Ein Toyota aus Groß-Gerau erwischt
Fabian fast am Knie, ein Motorrad fährt fast frontal in ihn rein. Bei
jedem Verkehrsmittel gibt es ein paar Prozent Arschlöcher, bei
Motorradfahrern sind es ein paar Prozent mehr. Gedanklich sehe ich mich
mit einem Schweizer Taschenmesser auf dem Motorradparkplatz, es gelingt
mir dann aber doch, meine Energie sinnvoller zu investieren – indem ich
in die Pedale trete.
Wir
machen einen Abstecher zur Oberglanegg Alm. Hier ist es ruhig, schön
und lecker. Allerdings liegen die Brennnesselknödel bei den letzten 500
Höhenmetern schwer im Magen. Immer wenn ich aufstoße, verdrängt ein
deftiger Duft nach Parmesan und Butter die Sportwagenabgase.
Um
13.25 Uhr stehen wir nach 98 km Bergauffahren auf dem Timmelsjoch.
Geschafft! Ein Rennradfahrer aus München macht ein Foto von uns. Er ist
um 23 Uhr in München gestartet und hat schon 220 Kilometer in den
Beinen, sein Tagesziel ist der Gardasee (oder zumindest die Montiggler
Seen). Was sind wir doch für Looser...
Nach der Fotosession stürzen wir uns in die Abfahrt – mit Rückenwind. Obwohl ich ständig bremse, erreiche ich 73 km/h – ein persönlicher Rekord. Fabian kommt sogar auf 80 km/h - ebenfalls persönlicher Rekord.
Auf
dem Weg nach Sölden, dem „schneesichersten Wintersportort der Alpen“,
unterqueren wir ein Eisengerüst. Über dieses Gerüst fährt im Winter ein
Schrägaufzug "vom Schiraum auf die Piste". Piefke-Saga 4 war deutlich
untertrieben. Irgendwann hat man im Ötztal gemerkt, dass man nicht nur
Kühe melken kann, seitdem werden hier für zu melkende Touristen
allerhand Verrücktheiten gebaut. Hotels heißen meist Chalets, Pensionen
heißen jetzt Lodges und was einst bei Neckermann als Ferienwohnung
gebucht wurde, läuft bei booking.com jetzt als Appart.
Beim
M-Preis in Sölden tätigen wir einen typischen Radfahrereinkauf und sind
erstaunt über uns selbst, dass wir schon wieder so viel essen können.
Dann radeln wir weiter, immer schön bergab, meist leichter Rückenwind.
Als ich das bislang einzige Mal übers Timmelsjoch geradelt bin, musste
ich das Rennrad auf der verkehrsreichen Bundesstraße durch das ganze
Ötztal fahren und mich dabei zweimal vor einem Gewitter unterstellen. Im
Inntal ist dann eine Speiche gebrochen und ich musste abbrechen. Die
Anekdote kann man in meinem Buch „Südtirol radelt“ nachlesen.
Heute
läuft es besser: kein Gewitter, kein Speichenbruch – und vor allem
führt durch das Ötztal mittlerweile ein Radweg. Ein richtig schöner!
67
Kilometer sind es von der Passhöhe am Timmelsjoch bis zur Area 47. Das
Ötztal ist schon wirklich lange. Und wir müssen heute sehr viel bergauf
gefahren sein, sonst wären wir nicht mit so viel Abfahrt belohnt werden.
Wir genießen bei der Kaffeepause den Blick auf lustige Aktivitäten im
Funpark.
Überraschend einfach gewöhnen wir uns in Imst daran, dass es jetzt wieder bergauf geht – und ziehen noch bis Nassereith durch. Nach 187 Kilometern und 2.955 Höhenmetern beenden wir die Königsetappe.
Der
2. Tag startet mit strahlendem Sonnenschein. Auf der alten Römerstraße
quälen wir uns zum Fernpass hinauf. Ich vermisse die kleinen Gänge der
Pinion-Schaltung am Reiserad.
Die
Berglandschaft ist ein Traum. Die Blechlawine auf der Fernpassstraße
ist ein Albtraum. Wir folgen also auch auf der Abfahrt weiterhin den
Kieswegen des Radfernwegs Via Claudia Augusta und meiden die Straße. Was
uns natürlich Zeit kostet. Bis wir endlich mal in Leermoos sind, ist
schon halb zwölf, aber wir haben erst 30 Kilometer. An dieser Stelle
rechnen wir beide nicht damit, dass es heute insgesamt 150 werden.
Am Nachmittag kommen wir deutlich schneller voran. Vorbei an der „Highline 179“ bei Reutte, über einen wahrlich grünen Grenzübergang vor Pfronten, vorbei an den vertrauten Ortsschildern Nesselwang und Oy erreichen wir Kempten. Unzählige Male füllen wir unterwegs die Wasserflaschen nach. Dann gibt es – bei 33 Grad – endlich den längst verdienten Eisbecher.
Allgäu
ist, wenn du eine Unterkunft anrufen willst, aber telefonieren
unmöglich ist, weil seit 5 Minuten neben dir die Kirchglocken läuten.
Als die Glocken endlich schweigen, handeln wir uns mehrere telefonische
Absagen ein. Schließlich ergattern wir das letzte Pilgerzimmer im
Kloster Bonlanden. Es werden also nicht die letzten Kirchenglocken
gewesen sein.
Ab Kempten folgen wir der Iller Richtung Norden.
Die schönsten Flussradwege sind die, die nicht immer am Fluss entlang
führen. Überraschenderweise hat auch der Iller-Radweg tolle
abwechslungsreiche Auf- und Ab-Passagen abseits des doch etwas
langweiligen Flusses. Die gletschergraue Ötz gestern war richtig
beeindruckend, der kalktürkise Lech heute Mittag war richtig schön, die
braune Iller kann da nicht mithalten.
Die
Beine sind immer noch richtig fit, sie tun nur am Einschussloch der
Wespe weh. Der Rest des Körpers schmerzt, aber mit leichtem Rückenwind
fliegen wir bei schönstem Abendlicht förmlich durch die Landschaft. Was
für ein toller Abschluss der 2. Etappe. Der tragisch hätte enden können,
ich wäre fast in eine zwischen zwei Pollern gespannte Kette gefahren…
Im
Kloster gibt es kein Abendessen, also kehren wir drei Kilometer vorher
beim Gasthof Adler ein. Kässpätzle und Gold Ochsen Bier sprechen dafür,
dass wir schon ziemlich weit gekommen sind. Donnerstag Pizza in Italien,
Freitag Gulasch in Österreich, Samstag Käsespätzle in
Baden-Württemberg: So muss eine Alpenüberquerung schmecken.
Die abschließenden drei Kilometer zum Kloster fahre ich im Stehen – Po und Sattel vertragen sich nicht mehr.
Auf
dem Weg zum Frühstück laufen wir am nächsten Morgen durch den Regen –
es wird das einzige Mal auf dieser Tour bleiben, dass wir nass geworden
sind.
Den Iller-Radweg muss ich wann anders komplettieren: Alle
200 Meter liegt ein Baum auf dem Weg, die Gewitter vergangene Wochen
haben voll zugeschlagen. Wir weichen auf parallel verlaufende
Straßen(begleitende Radwege) aus.
Die Landschaft ist schön, aber unspektakulär. Highlight ist eine Parade historischer Traktoren – Sonntag in Oberschwaben.
Ruckzuck
sind wir in Ulm, flott kurbeln wir die Schwäbische Alb hinauf und
kommen um 16:57 Uhr in Esslingen an. Von der Etsch an den Neckar in 3
Tagen, 467 Kilometern und 5.531 Höhenmetern. Wow!
Das beste: Ich
bin jetzt zu Haus und muss nicht mehr mit der Bahn zurückfahren. Eine
Katastrophe wie auf der Hinfahrt bleibt mir also erspart.
Auch
gut: Die Route fürs nächste Jahr (mit Stilfser Joch und Gaviapass) haben
wir schon grob im Kopf. Die Alpenüberquerung hat so viel Spaß gemacht,
das müssen wir wiederholen.

































